Athlet zu sein, das bedeutet: Es liegen stets die Rekorde vor Augen, die zu brechen sind. Die Leistung gilt es fortlaufend zu steigern, um an der Spitze der sportlichen Disziplin zu bleiben. Stress und Druck sind somit im Spitzensport allgegenwärtig. Doch vielleicht nicht ohne Grund?
In diesem Artikel setzen wir ein neues Licht auf den Zustand «Stress». Wir gehen der konstruktiven Kraft dieses Zustands auf den Grund und werfen ebenso einen Blick darauf, ob Stress nicht doch der Schlüssel ist zu herausragenden sportlichen Leistungen – obgleich er häufig als negativ und hinderlich auf dem Weg zum Erfolg betrachtet wird. Wir beginnen mit einem Beispiel, um tiefer in dieses Thema einzutauchen.
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Zum Finalspiel treffen Michelle und Elena auf der Tennisanlage ein. Die Sonne scheint und die Asche des Platzes ist für sie bewässert und hergerichtet. Beide merken, dass die Nervosität steigt. Spätestens beim Betreten des Tennisplatzes fängt ihr Herz an schneller zu schlagen und sie spüren, dass der Druck steigt. Sie wissen, dass das Match körperlich und mental von ihnen viel abverlangen wird. Sie haben auf dem Weg bis hierhin hart trainiert und sind gewillt, das Spiel für sich zu entscheiden.
Michelle ist sich kurz vor Beginn gewiss, dass sie ihren Spielrhythmus schnell findet. Auf die Hitze, das Sonnenlicht sowie Wind und mögliche Zwischenrufe aus dem Publikum ist sie eingestellt und sie geniesst den besonderen Moment im Finale zu stehen. Das Match beginnt und sie setzt ruhevoll ihren Spielplan um und lässt sich durch stressige Momente – wie Netzroller ihrer Gegnerin oder Zwischenrufe aus dem Publikum – anspornen.
Demgegenüber merkt Elena kurz vor Beginn, wie ihr Herzschlag steigt. Der Blick ins Publikum macht sie nervös. Die Hitze des Tages lässt sie zweifeln, ob sie durchgehend auf hohem Niveau spielen kann. Obwohl sie weiss, dass sie im sportlichen Vergleich mit Michelle gleichauf ist, fühlt sie sich beim Einspielen verunsichert und weiss nicht, ob sie ihre Spielstrategie umgesetzt bekommt. Trotz starkem Start findet sie im Verlauf des Spiels nicht zu ihrem Spielrhythmus und lässt sich durch unvorhergesehene Ereignisse aus der Bahn bringen. Sie unterliegt Michelle deutlich und das Spiel ist nach kürzester Zeit beendet.
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In Anlehnung an die obige Geschichte erkundet dieser Artikel folgend einzigartige Stressfaktoren, denen Athleten im Leistungssport ausgesetzt sind und wie sie Stress als Auftrieb für verbesserte sportliche Leistungen nutzen können. Die obige Geschichte stützt sich dabei auf den Grundgedanken, dass eine gleiche Situation unterschiedlich erlebt werden kann und auf die Leistung fördernd oder hemmend wirkt.
Die Psychophysiologie des Stresses
Interpretation eines Ereignisses
Stress ist keine Sache, die von aussen auf und einwirkt – wie ein Ball, der uns trifft. Stress entsteht in uns; es ist eine persönliche Wahrnehmung und interpretative Auslegung von Ereignissen. Im Sport ist es das Gleiche: Athleten reagieren auf bestimmte Situationen gemäss ihrer eigenen Erfahrungen, Bewertungen und Überzeugungen. Der eine sieht im Spitzenturnier oder Finalspiel eine faszinierende und reizvolle Herausforderung, wohingegen der anderen dieses Event eher als stressig und anstrengend wahrnimmt.
Doch wie kommt es zu dieser unterschiedlichen Betrachtungsweise bei Athleten? Diese Frage ist nennenswert, denn die persönliche Auslegung einer Situation prägt sowohl die emotionale Reaktion des Athleten als auch die körperliche sowie mentale Leistungsfähigkeit in stressreichen Situationen. Gehen wir der Sache näher auf den Grund:
Der Unterschied liegt in dem Glauben resp. der Einschätzung des Athleten, es seien ihm nicht ausreichend Ressourcen vorhanden, um die bevorstehende sportliche Herausforderung erfolgreich zu meistern. Dann wird diese Situation als «stressig» oder «bedrohlich» empfunden. Als psychologische Folge verliert der Athlet Fähigkeiten, die er für den Wettkampf dringend braucht: Bewegungsfluss sowie -genauigkeit nehmen ab sowie ein schnelles und dynamisches Auffassungs- und Denkvermögen leiden. Dies hat zwangsläufig Auswirkungen auf die Spiel- und Wettkampfsituation, die der Athlet falsch einschätzt. Zudem verleitet dies zu leichtsinnigen Fehlern. Als Konsequenz nagt dies einerseits am Selbstvertrauen; andererseits kann dies zur Überkompensation führen, unter welcher der Athlet untypische und der Situation unpassende Verhaltensweisen zeigt, wie z. B. Albernheiten, Übereifer, eine übersteigerte Bereitschaft Risiken einzugehen oder sogar Resignation.
Rückmeldung des Körpers auf die Interpretation eines Ereignisses
Aus dem vorherigen Abschnitt wurde deutlich, dass die persönliche Einschätzung und Interpretation eines Ereignisses zu Stress führen kann. Dies ist von Mensch zu Mensch unterschiedlich. Was allerdings nicht unterschiedlich ist – sondern gleichbleibend –, ist die körperliche (physiologische) Reaktion, die der Körper bei Stress zeigt. Charakteristisch ist es, dass der Blutdruck steigt, Stresshormone freigesetzt wird (z. B. Cortisol), sich die Muskeln anspannen und der Herzschlag schneller wird.
Der Grund für diese charakteristischen und völlig normalen Veränderungen ist in der Evolution des Menschen zu finden. In stressigen und herausfordernden Situationen benötigte es schon damals eine erhöhte körperliche Leistungsfähigkeit, um mit voller Energie und Konzentration angemessen zu agieren. Nicht anders ist es im Sport, im welchem Stresssituationen auch nicht zu vermeiden sind. Wofür vormals der Säbelzahntiger stand und den Menschen zum schnellen Weglaufen brachte, steht heute der Wettkampf, die Rivalität zu anderen Athleten und der besondere Moment, der zwischen Sieg und Niederlage entscheidet.
Auf körperlicher Ebene ist somit Stress und seine Anzeichen (wie Herzklopfen, Muskelanspannung, Freisetzung von Cortisol etc.) eine völlig natürliche und normale Reaktion. Sie macht leistungsfähig, vitalisiert und weckt auf und schärft die Sinne für den Moment. Eine Stressbewältigung, welche diese von Natur aus leistungsfördernden Effekte aufgreift, hilft Athleten dabei, ihre Leistungsvermögen auszubauen.
Wie Athleten ihr Verständnis von Stress schliesslich zu ihrem Vorteil verändern, beschreiben wir im nächsten Abschnitt.
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