Marlen Reusser und Ray Popoola: Eine Bilanz des gemeinsamen Mentaltrainings

Die «NZZ am Sonntag» nahm im November 2021 die Schweizer Radsportlerin Marlen Reusser und ihren Mentalcoach Ray Popoola in ein Interview. Der Zeitpunkt war – buchstäblich – goldrichtig: Denn zuvor errang Marlen Reusser beachtliche Erfolge: WM-Zweite im Zeitfahren 2020 und 2021; Europameisterin im Zeitfahren 2021. Und nicht zu vergessen ist ihre Silbermedaille im Olympia-Zeitfahren in Tokio 2020.

Nach solchen Leistungen ist es verständlich, dass das Thema „Mentaltraining“ in den Mittelpunkt rückt. Marlen Reusser und Ray Popoola standen im Interview mit Sebastian Bräuer Rede und Antwort über ihre Zusammenarbeit und liessen zudem hinter die Kulissen blicken, wie mit Schmerzen, Druck und Ängsten im Profisport umzugehen ist. Es sind Aspekte, auf die man in Richtung sportlicher Höchstleistungen stösst.

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Dem Schmerz entkommen durch die Konzentration auf den Moment

Marlen Reusser erklärt, dass für den Start ihrer Zusammenarbeit mit Mentalcoach Ray Popoola die zentrale Frage im Raum stand, wie sie im Moment ihrer sportlichen Höchstleistung mit körperlichem Schmerz umgeht. Sie selbst benennt im Interview ihre Leitfrage wie folgt: „Wie gehe ich mit dem Schmerz um, wo lenke ich auf dem Velo das Bewusstsein hin?“

Wie gehe ich mit dem Schmerz um, wo lenke ich auf dem Velo das Bewusstsein hin?

Mit ihrer Leitfrage im Hinterkopf sah sie in einem Beitrag der Sendung «SRF Puls», dass Ray Popoola einen Patienten durch eine schmerzvolle Handgelenks-OP begleitet hatte – doch statt Narkose oder Schmerzmittel führte der Mentalcoach den Patienten mit Hypnose durch die OP. Das Ergebnis: Der Patient nahm die OP sehr gut auf und sie verlief zudem erfolgreich und wunschgemäss. Diese Form von Schmerzkontrolle gab Reusser den Anstoss zur Kontaktaufnahme mit dem Mentalcoach.

Ray Popoola erklärt hierzu im Interview, dass Hypnose „ein Zustand von nach innen gerichteter Aufmerksamkeit“ ist. Ein entscheidender Aspekt, den Marlen Reusser in ihren Fahrstil einbaute, um sich nach innen gerichtet und ablenkungsfrei auf sich und das Wesentliche ihres Rennens zu konzentrieren – auch wenn körperlicher Schmerzen in den Moment der sportlichen Höchstleistung involviert sind. Ray Popoola fasst dies mit folgenden Worten zusammen: „Grundsätzlich ist es wichtig, sich nur auf den Moment zu konzentrieren. (…) Marlen weiss, dass das Schmerzgefühl für eine bestimmte Zeit auszuhalten ist, und denkt an etwas anderes.“

Grundsätzlich ist es wichtig, sich nur auf den Moment zu konzentrieren. (…) Marlen weiss, dass das Schmerzgefühl für eine bestimmte Zeit auszuhalten ist, und denkt an etwas anderes.

Von Druck in die Gelassenheit

Noch vor dem eigentlichen Wettkampf, in dem Marlen Reusser alles aus sich herausholt, spielt der Kopf schon eine zentrale Rolle. Mit vielen Trainingstagen wird der eine – oder gar einzige – Wettkampftag vorbereitet. Ein Bereich, in welchem das Gefühl von Druck und Angst keine Seltenheit ist.

Reusser räumt zunächst ein, dass der Übergang vom Hobby- in den Profisport sie gelassener gemacht hat. Und sie fügt hinzu, dass sich teils Hobbysportler mehr sportlichen Druck machen, als Profis. Die Gedanken sind berechtigt, denn es berührt die Frage, ab wann Druck im Sport die Leistung eher verhindert, statt ankurbelt. In diesem Punkt sind sich Reusser und Popoola einig: „Niemand kann mir Druck machen, solange ich es nicht selbst zulasse.“

Niemand kann mir Druck machen, solange ich es nicht selbst zulasse.

In diesem Zusammenhang merkt allerdings Ray Popoola kritisch an, dass ein eher selbst verursachter oder gar künstlicher Druck die Leistung im Wettkampfmoment mildern kann. Hintergrund dessen war Reussers wiederholte Erwähnung, dass sie an ihrem 30. Geburtstag WM-Gold gewinnen wolle. Damit schürte sie über ein halbes Jahr lang entsprechende Erwartungen. Popoola wertet einen solchen Erwartungsdruck für keine gute Idee. Er kommentiert dies aus seiner Erfahrung heraus wie folgt: „Wenn ich einen Tag definiere, an dem alles perfekt funktionieren muss, kann das zu einem Zustand der Übererregtheit führen. Falls dann irgendetwas nicht rund läuft, gelingt plötzlich gar nichts mehr. Ohne allzu konkrete Erwartungen ins Rennen zu gehen, ist meines Erachtens die beste Strategie.“ Marlen Reusser errang letztlich WM-Silber; sicherlich eine kleine Hommage an Talent, Motivation und die nötige Eigenständigkeit, die Reusser selbst brauchte und damit ihren Weg ging. Und dennoch verlieren Popoolas Worte nicht an Bedeutung.

Ohne allzu konkrete Erwartungen ins Rennen zu gehen, ist meines Erachtens die beste Strategie.

Motivation

Der Gewinn der oben erwähnten WM-Silbermedaille deckt eine wichtige Facette der Profi-Radfahrerin auf. Denn ein entscheidender Faktor an dem Gelingen ihrer sportlichen Erfolgsmomente ist sie selbst, mit ihrem eigenen Engagement und ihrer persönlichen Motivation zum Radsport. Noch bis 2019 arbeitete Marlen Reusser parallel zu ihrem Training als chirurgische Assistenzärztin. Im darauffolgenden Jahr 2020 fuhrt sie dann zum Olympia-Silber in Tokio wie auch zu der oben erwähnten WM-Silbermedaille. Ohne einer eigenen inneren Motivation geht es nicht. Hierzu resümiert sie selbstbewusst: „Ich werde oft gefragt: Frau Reusser, wie kann ich mich motivieren? Manchmal lautet die Antwort: Du sollst dich gar nicht zu etwas motivieren, was dir keinen Spass macht.“ Dem stimmt Ray Popoola zu. Er hebt dabei selbst nochmals hervor, dass die Motivation und der innere Antrieb stimmig sein muss – denn dies erhöht die Wahrscheinlichkeit auf den Sieg: „Sport muss Spass machen. Ihn nur zu betreiben, um auf dem Podest zu stehen, ist keine gute Motivation.“

Du sollst dich gar nicht zu etwas motivieren, was dir keinen Spass macht.

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Das Interview führte Sebastian Bräuer mit Marlen Reusser und Ray Popoola durch. Es steht unter dem Titel «Wenn ihr keine Lust auf Sport habt, lasst es einfach» und wurde im November 2021 veröffentlicht.