Wie verwandelt man talentierte Athleten in Weltklasse-Performer? Dieser Artikel taucht tief in die Geheimnisse der Entwicklungspsychologie ein. Wir zeigen, wie ein fundiertes Verständnis der Entwicklungsstufen nach Erik H. Erikson die Beziehung zwischen Trainern und Athleten revolutionieren kann. Entdecke, wie Du eine starke, vertrauensvolle Bindung aufbauen, die psychische Gesundheit verbessern und die Leistung auf ein neues Niveau heben kannst. Dies, indem Du individuelle Bedürfnisse erkennst und gezielt darauf eingehst. Dieser Artikel ist ein Muss für Trainer, die nicht nur Erfolge feiern, sondern auch als Mentoren im persönlichen und sportlichen Wachstum ihrer Schützlinge glänzen wollen.
Die 8 Entwicklungsstufen des Menschen
Das Stufenmodell der Entwicklung des Entwicklungspsychologen Erik H. Eriksons ist in der Sportpsychologie ein bewährtes Modell (Darlin-Fisher, 2018; Lobinger et al., 2021). Es gliedert dabei die Entwicklung des Menschen in acht Stufen – beginnend mit dem 1. Lebensjahr bis zum späten Erwachsenenalter.
Stufe 1: Durch Interaktion zum Vertrauen (0-1 Jahr)
Im ersten Lebensjahr ist das Ziel, ein gesundes Verhältnis zwischen Vertrauen und Misstrauen zu entwickeln. Hierfür ist die Vermittlung von Sicherheit durch Interaktion und Fürsorge von den primären Bezugspersonen eines Kindes von zentraler Bedeutung. Dadurch erlebt das Kind eine Übereinstimmung zwischen den eigenen Bedürfnissen und der Umwelt.
Stufe 2: Spielerische Selbstständigkeit und Körperbewusstsein (2–3 Jahre)
Mit der zweiten Stufe kommt das Kind in eine aktive Rolle, mit dem Drang nach körperlicher Unabhängigkeit. Es erforscht sein Umfeld, möchte den neu entdeckten eigenen Willen umsetzen und sich selbstständig fühlen. Kinder lernen sowohl durch die Erfolge als auch durch die Misserfolge ihrer Selbstständigkeit und entwickeln dabei ein für den Sport wichtiges Körperbewusstsein. Sie erleben sich selbst als Urheber von Handlungen.
Ab dem dritten Lebensjahr erkennen Kinder erstmals ihr eigenes Handlungserlebnis, indem sie Freude oder Stolz nach Erfolgen und Enttäuschung oder Scham nach Misserfolgen erleben (vgl. Hänsel et al., 2016).
Stufe 3: Mit sportlicher Erkundung zur Eigeninitiative (4–5 Jahre)
Mit dem Älterwerden wollen Kinder zunehmend Eigeninitiative ergreifen und unabhängig von Bezugspersonen Entscheidungen treffen. Durch das Experimentieren mit der eigenen Entscheidungsfähigkeit beginnt sich in der 3. Phase ein Moralgefühl zu entwickeln, welches der Orientierung zwischen «richtig» und «falsch» dient.
Kinder in dieser Entwicklungsstufe an den Sport heranzuführen, wie es in den Biografien des Spitzensports immer wieder vorkommt, sollte einfühlsam und rücksichtsvoll stattfinden. Von aussen gesetzte Einflussfaktoren, wie von den Eltern ausgesuchte Sportarten, haben eine enorme Prägungskraft auf Kinder.
Dennoch können sie durch den Sport wichtige Erfahrungen machen, um ihre Persönlichkeitsentwicklung zu fördern. Sie lernen, sich ihren eigenen Weg zu bahnen, eigene Ziele zu verwirklichen und mit anderen zu konkurrieren. (vgl. Hänsel et al., 2016).
Stufe 4: Körperliche Kompetenz und Selbstwertgefühl (6-12 Jahre)
In dieser Stufe ist die grundsätzliche Bildung der kindlichen Leistungsmotivation in abgeschlossen. Kinder fangen an, sich selbstständig mit ihren Interessen auseinanderzusetzen. Sie möchten in ihren Interessen aktiv mitwirken und etwas Eigenes gestalten, indem sie etwas Nützliches und Gutes tun. So entdecken sie ihre eigenen Fähigkeiten und Kompetenzen. Dadurch entsteht ein Gefühl des eigenen Werts, getreu dem Motto: „Ich bin wert, was ich erschaffe“.
Im Sport wird die realistische Einschätzung der eigenen Fähigkeiten zum wichtigen Bestandteil für ihr leistungsorientiertes Handeln. Je niedriger der Selbstwert ist, desto seltener begibt sich ein Kind in Leistungssituationen. Lege daher viel Wert auf die Formulierung erreichbarer Aufgaben und Übungen. Und stärke die erfolgreiche Ausführung mit entsprechender Anerkennung, Lob und positivem Feedback. So entsteht ein gesundes und förderliches Vertrauen in die eigenen Kompetenzen und Leistungen.
Gib als Trainer Kindern in dieser Stufe zudem individuelle Aufmerksamkeit, insbesondere wenn ihre Leistung unter dem Durchschnitt liegt. Sei flexibel in deiner Trainingsgestaltung, um die unterschiedlichen Lernbedürfnisse und Persönlichkeiten der Kinder zu berücksichtigen. Lege den Fokus auf positive Verstärkung, indem du die Fortschritte der Kinder in Bezug auf ihre eigenen Ziele würdigst, anstatt Leistungen anhand von Vergleichen zu bewerten.
Stufe 5: Identitätsentwicklung und Rollenfindung (13–19 Jahre)
Mit der fünften Stufe beginnt das «Teenager-Alter». In dieser Phase formt sich bei den Jugendlichen ihr Selbstbild. Grundlagen hierfür sind ihr bisher gesammeltes Wissen über sich selbst und über ihre Umwelt.
Jugendliche streben in dieser Phase danach, ihren Platz in der Gesellschaft zu finden. Sie gleichen sich dabei wiederholt mit den wahrgenommenen Erwartungen ihres Umfeldes ab. Themen können hierbei sein: Berufswunsch, Status, Familie oder Liebe. Zudem machen sie sich Gedanken darüber, welche Rolle sie in der Gesellschaft einnehmen. So z. B. Herkunft, Religion, Politik und Geschlechterrollen.
Der Sport und dessen jeweilige Kultur spielen in dieser Phase eine beachtliche Rolle. Und zur Orientierung in der Identitätsentwicklung dienen primär Vorbilder und Idole. Sei Dir bewusst, dass Du als Trainer in dieser Phase eine besonders wichtige Rolle einnimmst. Von Dir vorgelebte Werte und Verhaltensweisen wirken sich stark auf die Identitätsentwicklung und Rollenfindung aus.
Stufe 6: Enge Beziehungen und Teamarbeit im Sport (20–40 Jahre)
In dieser Stufe sind Solidarität, Beziehungen, soziale Integration sowie Nähe von zentraler Bedeutung. Dies hat zwei Gründe:
Identität stabilisieren: Zum einen schaffen enge Beziehungen zu anderen Menschen einen Zugang zu den eigenen innersten Gefühlen und Gedanken. Die Auseinandersetzung mit ihnen stabilisiert die Identitätsbildung. Das bezieht auch platonische Beziehungen ein. In diesen zeigt sich der Wunsch nach Intimität in Form von Solidarität, Hingabe und Treue zu einer Gruppe und somit beispielsweise auch einem Team.
Isolation vorbeugen: Zum anderen beugen intime Verbindungen dem Rückzug in die Isolation vor. Athleten in der 6. Entwicklungsstufe erreichen häufig ihren sportlichen Leistungshöhepunkt, da der Sport dabei im Alltag allgegenwärtig ist. Daher ist die Berücksichtigung eines ausgewogenen Soziallebens von zentraler Bedeutung und die soziale Integration der Athleten in dieser Phase immens wichtig.
Stufe 7: Gemeinschaftliches und persönliches Wachstum (40–65 Jahre)
Besonders im Leistungssport kann es spätestens in dieser Phase für Athleten zu grossen Veränderungen kommen. Der Ausstieg aus dem Leistungssport geht häufig mit einem drastischen Identitätswechsel, dem Verlust sozialer Netzwerke sowie fehlender Karriereambitionen einher (vgl. Voorheis et al., 2023). In dieser Umbruch-Phase ist die Unterstützung eines Coaches sehr nützlich.
Erwachsene in der siebten Phase verspüren in ihrer Persönlichkeitsentwicklung häufig eine Fürsorge für die Menschheit – Sie möchten sich für andere einsetzen und für eine bessere Zukunft sorgen. Erikson bezeichnet dies als «Generativität».
Der fürsorgliche Blick auf die nachfolgende Generation kann beispielsweise für neue sportliche Perspektiven genutzt werden. Hierfür bietet sich z. B. der Einstieg als Trainer in den Nachwuchssport als ein geeignetes Umfeld an.
Stufe 8: Reflexion und Lebensbilanz (65+ Jahre)
Praxisbeispiele für Dich als Trainer
Psychische Gesundheit und Persönlichkeitsentwicklung im Sport
Das Verständnis der Entwicklungsphasen ist entscheidend, um Athleten genau dort zu unterstützen, wo sie stehen. So schaffst Du eine Umgebung, die nicht nur ihre mentale Gesundheit stärkt, sondern auch eine starke Basis für Spitzenleistungen legt.
Dies bestätigen zahlreiche Studien, die zeigen, dass eine gute psychische Gesundheit von Athleten eine Grundvoraussetzung für sportlichen Erfolg ist (vgl. Aoyagi et al., 2012; Brown & Arnold, 2019; Petitpas & Tinsley, 2014).
Diese Erkenntnis setzt einen starken Kontrast zum Vorgehen mancher Trainer, die körperlichen, verbalen und emotionalen Druck nutzen, um ihre Athleten zur besseren Leistung zu «pushen» (vgl. Stirling & Kerr, 2008).
Leider hält bis heute der Irrglauben, dass ein fürsorgliches Entwicklungsumfeld, welches frei von körperlicher und emotionaler Qual ist, nicht mit Spitzenleistungen einhergehen kann (vgl. McHenry et al., 2020).
Eine jüngere Umfrage der Swiss Olympics bestätigt dies, welche im Jahr 2021 durchgeführt wurde. In dieser Umfrage wurden 136 Nachwuchsathletinnen aus 22 Sportarten befragt, was für ihr Training und ihre Leistung persönlich am wichtigsten ist. Dabei gaben etwa die Hälfte «Vertrauensverhältnis zum Trainer» und/oder «Kommunikation zum Trainer» an. Sie wollen als Menschen und nicht als Maschinen behandelt werden. Daher wäre es ein gemeinsames Ziel, dass Zitate wie das folgende zur Norm werden (vgl. mobilesport.ch, 2021):
«Mein damaliger Regionalauswahltrainer hat sich nicht bloss für mich als Athletin, sondern auch für mich als Person und mein Umfeld interessiert. Das habe ich sehr geschätzt.»
Ein fürsorglicher Beziehungsaufbau zu den eigenen Athleten und die Förderung ihrer psychischen Gesundheit erhöht die Wahrscheinlichkeit ihres sportlichen Durchbruchs und verschafft euch somit einen erheblichen Wettbewerbsvorteil (vgl. McShan et al., 2023).
Es folgenden 3 praktische Tipps, um die Beziehung zu Deinen Athleten zu verbessern und jeden von ihnen zur Top-Performance zu bringen.
3 Tipps für eine bessere Trainer-Athleten-Beziehung
- Aoyagi, M. W., Portenga, S. T., Poczwardowski, A., Cohen, A. B., & Statler, T. (2012). Reflections and directions: The profession of sport psychology past, present, and future. Professional Psychology: Research and Practice, 43(1), 32-38. https://doi.org/10.1037/a0025676
- Athletinnenumfrage. (2021). Swiss Olympic. Retrieved January 18, 2024, from https://www.swissolympic.ch/athleten-trainer/frau-spitzensport/athletinnenumfrage
- Bengtsson, D., Stenling, A., Nygren, J., Ntoumanis, N., & Ivarsson, A. (2023, Nov). The Effects of Interpersonal Development Programmes with Sport Coaches and Parents on Youth Athlete Outcomes: A Systematic Review and Meta-Analysis. ResearchGate. https://doi.org/10.13140/RG.2.2.18149.78567
- Brown, D. J., & Arnold, R. (2019, Jan). Sports performers› perspectives on facilitating thriving in professional rugby contexts. Psychology of Sport and Exercise, 40, 71-81. https://doi.org/10.1016/j.psychsport.2018.09.008
- Darling-Fisher, C. S. (2018, April 20). Application of the Modified Erikson Psychosocial Stage Inventory: 25 Years in Review. Western Journal of Nursing Research, 41(3), 1-28. https://doi.org/10.1177/0193945918770457
- Flohr, S. (2024, January 17). Beckenbauer-Zitate: „Eine Statue brauche ich nicht, da kacken die Vögel drauf“. WELT. https://www.welt.de/sport/fussball/article249424576/Beckenbauer-Zitate-Dass-die-Schweden-keine-Hollaender-sind.html
- Hänsel, F., Baumgärtner, S. D., Kornmann, J., & Ennigkeit, F. (2016). Sportpsychologie (F. Hänsel, Ed.). Springer Berlin Heidelberg.
- Kurath, M. (2021, June 9). Sportpsychologie – Sportcoaching – Empowerment: Athleten/innen verstehen, optimal fördern und erfolgreich coachen. Mobilesport. Retrieved January 18, 2024, from https://www.mobilesport.ch/aktuell/sportpsychologie-empowerment-athleten-innen-verstehen-optimal-foerdern-und-erfolgreich-coachen/
- Lobinger, B., Musculus, L., & Bröker, L. (2021). Entwicklungspsychologie und Sportpsychologie. In Sportpsychologie: Ein Überblick für Psychologiestudierende und -interessierte (pp. 57-67). Springer Berlin Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-662-63043-3_4
- McHenry, L. K., Cochran, J. L., Zakrajsek, R. A., Fisher, L. A., Couch, S. R., & Hill, B. S. (2020, Aug 19). Elite figure skaters’ experiences of thriving in the coach-athlete relationship: A person-centered theory perspective. Journal of Applied Sport Psychology, 34(2), 436-456. https://doi.org/10.1080/10413200.2020.1800862
- McShan, K., & Moore, E. W. G. (2023, Mar 07). Systematic Review of the Coach–Athlete Relationship From the Coaches’ Perspective. Kinesiology Review, 12(2), 158-173. https://doi.org/10.1123/kr.2022-0006
- Ohlert, J., Zepp, C., & Raven, H. (2023). Persönlichkeitsentwicklung und Stärkung der psychischen Gesundheit: Zielsetzungen und Methoden in der Sportpsychologie. In A. Ströhle (Ed.), Sportpsychiatrie und -psychotherapie (pp. 79-95). Springer Berlin / Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-662-66208-3_7
- Petitpas, A. J., & Tinsley, T. M. (2014). Counseling interventions in applied sport psychology. In J. L. Van Raalte & B. W. Brewer (Eds.), Exploring Sport and Exercise Psychology (pp. 241-259). American Psychological Association. https://doi.org/10.1037/14251-011
- Scheck, S. (2014). Das Stufenmodell von Erik H. Erikson. Bachelor + Master Publishing.
- Stirling, A. E., & Kerr, G. A. (2008, Jun 05). Defining and categorizing emotional abuse in sport. European Journal of Sport Science, 8(4), 173-181. https://doi.org/10.1080/17461390802086281
- Voorheis, P., Silver, M., & Consonni, J. (2023, Sep 21). Adaptation to life after sport for retired athletes: A scoping review of existing reviews and programs. PLOS ONE, 18(9). https://doi.org/10.1371/journal.pone.0291683
- «War oft einsam»: Fußball-Weltmeister André Schürrle beendet seine Karriere. (2020, July 17). Allgäuer Zeitung. Retrieved February 1, 2024, from https://www.allgaeuer-zeitung.de/sport/war-oft-einsam-fussball-weltmeister-andr%C3%A9-schuerrle-beendet-seine-karriere_arid-225237